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Verfremden - Auflösen von Wahrnehmungsroutinen

Ich möchte nun, nachdem ich einige Ergebnisse aus der Neurobiologie und der Redundanztheorie des Lernens aufgesammelt habe, zwei Thesen über den Akt der Verfremdung aufstellen und versuchen, sie anhand einiger Beispiele zu belegen:

Bei einigen Typen von Verfremdung werden wir gezwungen nicht mit unserem Gedächtnisbild des gezeigten Objekts zu arbeiten, das Superzeichen des Objekts wird aufgelöst. Bei anderen Typen erscheint ein unerwartetes Objekt, den erlernten Auftrittswahrscheinlichkeiten wird widersprochen.
Diese These bietet die Möglichkeit zu erklären, warum wir durch die Verfremdung eines Objektes etwas über das Objekt und seine Rolle in der Welt lernen können.

Wie oben erläutert, sehen wir im allgemeinen nicht das Objekt wie es ist, sondern unser Gedächtnisbild des Objektes. Wir sehen lediglich eine Hypothese über das Objekt, wir arbeiten mit dem Superzeichen. Die Assoziationen, die wir mit diesem Objekt verbinden, basieren ebenfalls auf diesem Gedächtnisbild.

Wenn wir das Objekt verfremden, können wir nicht mehr mit dem gewohnten Gedächtnisbild arbeiten. Das Superzeichen in unserem Gedächtnis paßt nicht mehr zu dem Objekt vor uns. Wir sind gezwungen, mehr Details zu erkennen. Dies führt zunächst zu einem Anwachsen syntaktischer Information.

Der Zuwachs an syntaktischer Information ermöglicht es uns, Gedankenverknüpfungen mit den Details des Objekts aufzubauen. Dies bezieht sich sowohl auf das Zusammenspiel der Details zu einem Ganzen als auch auf das Zusammenspiel von Details mit anderen Teilen der Welt.

Ein Auflösen von Superzeichen und eine Hinwendung zu den Details den Subzeichen scheint mir in folgendem Zitat beschrieben zu sein:

``Das Verfahren der Verfremdung bei Tolstoj besteht darin, dass er einen Gegenstand nicht mit seinem Namen nennt, sondern ihn so beschreibt, als werde er zum ersten Mal gesehen, und einen Vorfall, als ob er sich zum ersten Mal ereigne, wobei er in der Beschreibung des Gegenstandes nicht die gebräuchlichen Bezeichnungen für seine Teile verwendet, sondern sie so benennt wie die Teile bei anderen Dingen.''siehe

Ein zweiter Typ der Verfremdung betrifft das Wahrscheinlichkeitslernen. Durch das unerwartete Erscheinen eines Objektes werden die angenommenen Auftrittswahrscheinlichkeiten erschüttert. Diese Wahrscheinlichkeiten sind ein Teil der Ordnung, mit der wir der vielgestaltigen Welt einen Sinn zuweisen. Durch Verfremdung können die Hypothesen über die Auftrittswahrscheinlichkeiten in Frage gestellt werden. Wir müssen die Objekte neu ordnen, einem Teil der Welt einen neuen Sinn geben.

Ich möchte nun an einigen Beispielen meine aufgestellte These erklären, wohl wissend, daß es sich nur um Fragmente eines theoretischen Rahmens handeln kann.

Ein einfaches Beispiel für das Auflösen von Superzeichen als Akt der Verfremdung scheint mir in folgendem Gedicht von Ernst Jandl vorzuliegen:siehe

dogmen
catmen
pigmen

Wie funktioniert dieses Gedicht, wie wird verfremdet? Wenn wir das Wort dogmen kennen und erkennen, lesen wir es als ein Ganzes. Wir können dann Assoziationen mit diesem Wort, diesem Signal, bilden.

Durch das Lesen der zweiten und dritten Zeile des Gedichts wird eine Struktur des Wortes dogmen aufgedeckt. Durch das Austauschen der ersten Silbe, wird eine andere Lesart des Wortes gezeigt. Wir lesen `` dog - men''. Das Superzeichen dogmen wird in die zwei Subzeichen dog und men aufgelöst. Durch diese Auflösung wird der Informationsgehalt erhöht. Nun können neue Assoziationen mit den Subzeichen und deren Zusammenwirken aufgebaut werden.

Dies scheint mir typisch für viele Akte der Verfremdung zu sein. Ein scheinbar wohlbekanntes Objekt, ein Superzeichen, wird aufgebrochen. Details, Subzeichen, die man auf den ersten Blick nicht sehen konnte, werden offenbar. Dies führt zu einer syntaktischen Informationserhöhung. Dadurch ist es möglich, neue und andere Assoziationen herzustellen. Dies führt auch zu neuen Möglichkeiten, das ursprüngliche Objekt, das Superzeichen, zu sehen. Ich kann ein scheinbar bekanntes Objekt neu entdecken.

Wie wird in den beiden Beispielen für Verfremdung durch Kontextveränderung entselbstverständlicht? Objekte werden aus der gewohnten Umwelt, aus einem bekannten Kontext, genommen und in einen anderen Kontext gesetzt. Gewohnte, bekannte Zusammenhänge werden dadurch aufgelöst, daß ein bekanntes Objekt in einen neuen Kontext gesetzt wird.

Eines der Prinzipien, die ich in der Redundanztheorie des Lernens beschrieben habe, ist das Wahrscheinlichkeitslernen. Beim Wahrscheinlichkeitslernen haben wir durch den Umgang mit den Objekten erlernt, wie Signale miteinander interagieren. Durch die Kontextveränderung wird diesen Wahrscheinlichkeiten widersprochen.

Wir sind gewohnt, daß der Politiker Helmut Kohl in einem politischen Umfeld erscheint. Wir erwarten, daß er einen dunklen Anzug oder - während des alljährlichen Urlaubs am Wolfgangsee - eine helle Strickweste trägt. Das Signal Helmut Kohl ist mit den Assoziationen Politik, CDU, Bundeskanzler usw. fest verbunden. Wir haben ein Gefühl für die Auftrittswahrscheinlichkeiten von Kohls Antlitz und einer Mönchsrobe. Diese Wahrscheinlichkeit ist sehr gering.

Durch die Karikatur wird unsere Hypothese über die Welt, über den Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Signalen, erschüttert. Eine Signalfolge, die wir als sehr unwahrscheinlich gelernt haben, tritt auf. Es entsteht eine Lücke von Unwahrscheinlichkeit. Wir versuchen, diese Lücke durch neue, sinn- und zusammenhangsstiftende Assoziationen zu schließen.

Der Junge in Tourniers Roman erlebt ebenfalls eine starke Verunsicherung. Die gewohnten Gegenstände aus seiner Heimat sind ihm fremd gemacht worden, sie befinden sich an einem ungewohnten Ort. Er kann keine Verbindung zwischen dem Exponat und der Umwelt des Exponats herstellen.

Die Überraschung, etwas Gewohntes an einem ungewohnten Ort zu sehen, läßt sich durch die Wahrscheinlichkeit der Signalfolge ``gewohnte Szene'' und ``fremder Ort'' quantifizieren. Der Junge hat diese Folge nicht erwartet. Eine seiner Hypothesen über die Welt ist erschüttert worden.

Dieser Schock kann vielleicht dadurch verarbeitet werden, daß er dieses als sehr unwahrscheinlich empfundene Konstrukt mit sinn- und ordnungsgebenden Assoziationen zu füllen versucht. Tut er dies, so hat er ein bekanntes Objekt neu kennengelernt.

Bei der Verfremdung durch Fragmentierung liegt meiner Meinung nach ein Auflösen von Superzeichen vor. Eine Wahrnehmungsroutine wird durchbrochen, indem nicht mehr das Ganze - das Superzeichen - gesehen wird, sondern nur noch ein herausgelöstes Detail - ein Subzeichen. Durch dieses Auflösen wird zunächst die syntaktische Informationsmenge vergrößert. Anschließend können nun auch neue Assoziationen mit dem Subzeichen gebildet werden.

Was geschieht in den in Abschnitt 2.1.2 beschriebenen Beispielen?

Wenn wir das erwähnte Gemälde von Caspar David Friedrich sehen, versuchen wir, die abgebildeten Details zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzusetzen.siehe Dabei setzen wir zum Einen die in der Gestaltpsychologie formulierten Gesetze um. Andererseits greifen wir auf Gedächtnisbilder, auf vorhandene Superzeichen, zurück.

Wir sehen zunächst nicht das Bild wie es ist, wir versuchen, eine sinnvolle Szene zu sehen. Natürlich können wir unsere Aufmerksamkeit auf Details lenken, doch sehen wir diese vom Zentrum (dem inhaltlichen Zentrum, nicht dem geometrischen) her. Die Details werden in Bezug zum Ganzen gesehen. Die Gedankenketten zu den Details werden wesentlich durch diesen Bezug zum Ganzen bestimmt. Oder im Rahmen der Redundanztheorie des Lernens: Die Assoziationen zu den Subzeichen werden durch deren Bezug zum Superzeichen geprägt.

Bei der Fragmentierung des Bildes präsentierte uns Prof. Rumpf zunächst nur zwei Details des Bildes. Wir konnten ohne den Zwang des ganzen Objektes diese Details untersuchen. Dabei bildeten wir Assoziationen, die bei der Betrachtung des ganzen Objektes unterdrückt worden wären.

Die eigentliche Verfremdung wurde erst in dem Moment offenbar, als wir das ganze Bild sahen. Nun befähigen uns die reichhaltigen Querverbindungen zu den zuvor untersuchten Details, das Gemälde auf eine andere Art zu sehen.

In der von mir vorgenommenen Verfremdung eines bekannten und eines unbekannten Objekts ist ein ähnliches Phänomen sichtbar. Durch die Verfremdung, die Fragmentierung eines bekannten Objekts werden Details, Subzeichen, deutlich, die bei der Betrachtung des Ganzen verdrängt werden. Erkennen wir später die Fragmente im Zusammenhang mit dem vollständigen Objekt, so können wir, qua der Assoziationen zu den Details, das bekannte Objekt mit neuen Augen sehen.

Bei dem unbekannten Objekt, der Nasenpfeife, tritt dieser Effekt nicht auf. Auch die herausgelösten Details sind unbekannt. Es gibt kein Gedächtnisbild einer Nasenpfeife, auf das wir zurückgreifen können. Das Superzeichen ``Nasenpfeife'' gibt es (noch) nicht, daher kann es auch nicht aufgelöst werden.

Beim Verfremdungstyp Aufspüren geschieht etwas Ähnliches wie bei der Fragmentierung. Es geht nicht um den Gesamteindruck des Objekts, sondern um die Details am Rande. Nicht das Superzeichen soll gesehen werden, sondern die Subzeichen. Wir sollen nicht mit einer Hypothese, einem Gedächtnisbild, arbeiten, sondern das Objekt sehen, wie es ist.

In der Geschichte von Sherlock Holmes und Dr. Watson sieht Watson einige Details der Person von ihrem Zentrum her. Das scheinbar Wesentliche zwingt die Wahrnehmung der Details in schon festgelegte, hypothetische Bahnen. Holmes hingegen vergißt das Zentrum zunächst und wendet sich nur den Details zu. Er schließt aus den Subzeichen auf die Bedeutung des Ganzen.

Bei den Verfremdungstypen des Umfunktionieren und Geschichten erzählen, der ebenfalls im Kolloquium behandelt wurde, findet meine These keinen Halt. Diese beiden Typen scheinen mir in eine grundlegend andere Kategorie zu gehören, denn hier geht es um die Bedeutung des Wahrgenommenen.

Die Bedeutung eines Objektes läßt sich im Rahmen der Redundanztheorie des Lernens nicht fassen. Mir scheinen hier nicht Wahrnehmungs- sondern Bedeutungsroutinen durchbrochen zu sein.siehe


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Son Nov 12 13:51:05 CET 2000