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Realität und Gedächtnisbilder

Gerhard Roth sagt, daß unsere Erfahrung im Umgang mit einem Objekt dafür sorgt, daß wir das Objekt als Ganzes und nicht als Summe von Elementarreizen sehen. Im Rahmen der Redundanztheorie des Lernens könnte man dies so formulieren: Wir erkennen das in unserem Gedächtnis gebildete Superzeichen als ein Ganzes.

Ein wichtiges Ergebnis der neurobiologischen Untersuchungen ist, daß zum Erkennen eines ganzen Objektes, zur Aktivierung eines Gedächtnisbildes, nicht alle Details des Objekts wahrgenommen werden müssen.siehe Unsere Wahrnehmung ist so konzipiert, daß wir bereits anhand weniger Details auf in unserem Gedächtnis abgelegte Muster zurückgreifen können. Dabei können Objekte umso schneller und mit weniger Eckdaten erkannt werden, je vertrauter sie sind:

``Je vertrauter mir eine Situation oder Gestalt ist, desto weniger ``Eckdaten'' benötigt mein Wahrnehmungssystem, um ein als vollständig empfundenes Wahrnehmungsbild zu erzeugen, das zu diesen Eckdaten paßt.''siehe
Viele Details werden bei bekannten Objekten gar nicht wahrgenommen:
``Es genügen zum Teil nur Bruchstücke von aktuellen Sinnesdaten, um in uns ein vollständiges Wahrnehmungsbild zu erzeugen, das dann gar nicht von den Sinnesorganen, sondern von unserem Gedächtnis stammt.''siehe
In der Redundanztheorie des Lernens könnte man dies als ein Erkennen eines Superzeichens anhand einiger weniger Subzeichen beschreiben. Wir sehen weniger die Realität wie sie jetzt ist, als vielmehr unsere Gedächtnisbilder von den Objekten in unserer Umwelt.

Dies wird deutlich, wenn man sich an Situationen erinnert, in denen man bei wohlbekannten Menschen Veränderungen, wie ein neue Frisur oder eine andere Brille gar, nicht wahrgenommen hat. Man hat die Person anhand weniger Eckdaten mit einem Gedächtnisbild abgeglichen, ohne alle Details zu betrachten.

Die Überlegungen von Gerhard Roth zeigen, daß unsere Wahrnehmung ganz wesentlich auf aus Erfahrung stammenden Hypothesen über die Welt zurückgreift. Wir sehen nicht die Objekte, wir sehen unsere Gedächtnisbilder der Objekte. Beim Verfremden eines Objektes werden diese Hypothesen erschüttert, wir werden gezwungen, die Welt neu zu entdecken, zumindest zu staunen.


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Son Nov 12 13:51:05 CET 2000